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B.O.S.S. - Über das Sachliche

 

 

 


Ich schaute mich in meiner Wohnung um. Alles sah wieder nach Luke aus. Vielleicht sollte ich Lina bitten, mir meine weißen Möbel zurückzubringen. So wäre es leichter, mein neues Leben ohne Luke, ohne Boss, ohne DGL und ohne Arzt zu beginnen. Ich würde sie nächste Woche anrufen, oder danach die Woche. Wenn es mir besser ging. Wenn ich die Erkältung zum einen los war und zum anderen, wenn sich mein Herz von den tiefsitzenden Wunden erholte hatte, die erneut aufgerissen waren, nachdem Luke mich am Reitstall mit der Gerte geschlagen hatte. Innerlich verbesserte ich mich schnell. Nicht Luke, sondern der Boss hatte mich geschlagen. Und auch käme ich nicht drum herum, ihn anzurufen, weil ich noch so viele Dinge in seiner Wohnung liegen hatte. Aber jetzt wurde es erstmal Zeit, meine Wunden zu lecken … meine vielen Wunden … und kurz überlegte ich, bei welcher Wunde ich zuerst anfangen sollte.

Mechanisch zog ich meine Stiefel aus, dann vorsichtig die Reithose und die nasse Unterhose. Da der Schmerz bereits nach dem ersten Hieb so enorm war, hatte meine Blase nachgelassen. Rote Striemen zogen sich über meinen Hintern. Rote Striemen, die sich anfühlten, als sei meine Haut verbrannt. Aber das war noch das kleinste Übel von allem.

Ich duschte mich, biss die Zähne zusammen, als Seife, gemischt mit Wasser, über meinen Po lief, trocknete mich ab und hatte nur noch das Bedürfnis, ins Bett zu gehen. Mein Handy nahm ich mit … vielleicht schrieb er ja mal.

Ich versuchte zu weinen. Laut. Aber es ging nicht und es ärgerte mich sehr, denn Weinen hätte zumindest etwas vom Druck in meiner Brust genommen. Aber ich war zu schwach zum Weinen. Ich lag unter meiner Decke auf dem Rücken und starrte die Decke an. Ich schaffte nichts mehr zu bewegen. Nur die Augenlider bewegten sich wie von selbst. Langsam senkten sie sich, bis ich nichts mehr sah, als nur Röte und Blitze.

»I love you«, hörte ich es leise in mir. Lukes Stimme. Und es tröstete mich, zu wissen, dass ich den Klang seiner Stimme niemals in meinem Leben vergessen würde. Ebenso nicht den Duft, der ihm immer anhaftete und der für mich so besonders war, von Anfang an.

Ich liege auf kaltem Beton, die Sonne brennt auf meiner Haut, lässt mich schwitzen und spüren, dass meine Haut längst verbrannt ist. Ich hebe die Hand. Überall Blut … alles voll mit Blut … Maik hat gut getroffen. Ich werde hier liegen und verbluten. Das ist mein Ende. Das ist das Ende, das ich mir gewünscht habe. Einfach gehen zu können. Ich musste nur noch etwas warten, dann wäre es vorbei und in diesem Moment war ich Maik dankbar, mich angeschossen zu haben. Nur die Sonne, die könnte jetzt langsam mal untergehen. Mir ist so schrecklich heiß. Das Blut klebt getrocknet an meinem Körper. Überall. Ich spüre es auf meinem Gesicht, weil ich mir mit der Hand versucht habe, den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Man wird mich finden, wenn es vorbei ist und man wird sich wundern, woher das ganze Blut kommt, bis man feststellt, dass er mir genau in den Unterleib geschossen hat. Ich spüre wie das Blut läuft. Unaufhaltsam. Immer weiter. Mein Ticket in den Tod. Ich lächle zufrieden. Endlich wird die Schwere, die in meinem Leben immer da war, weg sein. Ich werde leicht sein. Ich werde zufrieden sein. Ich werde das kleine Mädchen mit dem blauen Kopftuch treffen. Endlich.

Das Klingeln meines Handys lässt mich zur Seite schauen. Es liegt unweit von mir entfernt auf dem Asphalt. Ich greife danach, muss mich strecken, alles tut weh. Wer stört mich beim Sterben? Wer will jetzt noch was von mir?

 

Erschrocken öffnete ich halb die Augen und schaffte es, langsam über das Display zu wischen und mir mein Telefon ans Ohr zu halten.

»Lou?«, hörte ich Luke sagen. Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Wieder störte er mich beim Sterben.

»Lass mich sterben. Einfach sterben. Ich habe Frieden geschlossen«, sagte ich ganz leise. Irgendwie begann meine Zunge erste Lähmungserscheinungen zu zeigen.

»Lou? Was … was redest du denn da?«[1]

»Es ist die Sonne. Sie ist zu heiß und das Blut überall.«

»Was … Lou? Ist alles in Ordnung mit dir? Hast du getrunken?«

»Maik hat mich angeschossen. Und die Sonne hat mich verbrannt. Es ist so heiß.«

»Lou, es scheint keine Sonne. Maik sitzt im Gefängnis. Was redest du da? Du machst mir Angst. Lou?«

»Es ist so heiß.«[2]

Ich hörte ihn husten. »Lou! Hör mir zu! Ich bin in zehn Minuten bei dir. Du musst mir aufmachen! Schaffst du das? Schaffst du es, die Türe zu öffnen?«, fragte er mit fester Stimme.

»Wir … hatten wir Streit?« Noch während ich die Frage stellte, fielen mir meine Augenlider wieder zu.  

»Nein, Baby, wir haben keinen Streit. Du musst … also du musst mir wirklich aufmachen. Verstehst du das?«

»Ich kann nicht … ich bin … das Blut. Überall.«

»Du machst mir Angst, Lou! Hat dein Nachbar einen Schlüssel?« Ich versuchte zu antworten, aber meine Zunge streikte. »Sprich mit mir, Baby! Bitte! Hat dein Nachbar einen Schlüssel?«

»Erster Stock«, krächzte ich und musste husten. Alles begann zu schmerzen und bei jedem Husten merkte ich, wie ich noch mehr Blut verlor. Die Leitung war tot. Luke war weg. Hatte ich nur geträumt?

Wieder fiel ich in einen unruhigen Schlaf und als habe der Traum nur auf mich gewartet, lag ich erneut auf dem Beton und die Sonne brannte unaufhörlich, unerbittlich weiter.

Ich schreckte hoch, als ich eine Hand auf meiner Stirn spürte. Luke.

»Lou, du hast hohes Fieber!«

»Die Sonne und das Blut«, flüsterte ich und hatte die Augen wieder geschlossen. Ich spürte plötzlich eine angenehme Kälte auf meinem so heißen Körper.

»Alright. Du hast deine Tage bekommen. Das ist nicht schlimm, verstehst du?«

Ich nickte nur langsam. »Da war ein Schuss«, flüsterte ich.

»Das ist das Fieber, was dich das glauben lässt«, sagte Luke leise und stand auf. Ich sah aus halbgeöffneten Augen, dass er mein Schlafzimmer verließ, und ich dachte, er würde wieder gehen. Es lohne sich nicht, sich um mich zu kümmern. Tränen liefen über mein heißes Gesicht und ich hatte das Gefühl, dass sie unweigerlich verdampften, weil meine Haut glühte.

Aber Luke kam wieder. Mit einer Schüssel in der Hand.

»Wir waschen das Blut weg, okay?«

»Okay. Und die Schusswunde?«, fragte ich leise und spürte wieder den unnachgiebigen Beton unter mir.

»Ja, die waschen wir auch weg.«

Luke legte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn. Ich atmete erleichtert aus, weil es die Hitze der Sonne wegnahm. Ich spürte kaltes in meinem Schritt, meine Muskeln begannen mit einem mal, zu zittern. Mir wurde kalt. Wahnsinnig kalt. Meine Zähne klapperten und ich konnte es nicht aufhalten.

»Gleich haben wir alles sauber. Du musst noch ein bisschen durchhalten«, sagte Luke und war offensichtlich dabei, meine Beine und meinen Schritt vom Blut zu befreien.

»Mir … mir ist … so kalt«, brachte ich hervor. Meine Zähne stießen wie bei einem Morsegerät ungleichmäßig zusammen. Und trotz der Kälte spürte ich den Schweiß auf meiner Stirn.

Ich sah, wie Luke sich einen Handschuh überzog. Angst kam in mir hoch. »Was …?«, versuchte ich zu fragen.

Luke packte meinen Oberschenkel und winkelte ihn an. »Na wir wollen doch, dass das Bluten aufhört, right?«, flüsterte er. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren. Sogar meine Hände konnte ich nicht mehr heben. Nichts mehr, gar nichts mehr an meinem Körper funktionierte noch.

Ich spürte irgendwas in mir und kurz begann es, weh zu tun.

»Alright«, murmelte Luke und zog sich den Handschuh aus. Er zog mir eine frische Unterhose an, dann packte er mich und legte mich auf die andere Seite vom Bett.

»Ich zieh mal schnell das Bett ab und steck die Sachen in die Waschmaschine. Ist ja alles voll mit Blut hier.« Luke legte die andere Decke über mich und zog das Bett ab. Dann verließ er wieder das Schlafzimmer.

Mir wurde immer kälter. Das Klappern wollte nicht aufhören und mit jedem Zusammenstoß meiner Zähne, flammte ein heftiger Schmerz in meinem Kopf auf. Als Luke zurückkam, öffnete ich langsam wieder die Augen. Er hielt ein Glas in der Hand. Vorsichtig stützte er meinen Kopf und hielt mir den Glasrand an die Lippen. Ich versuchte zu trinken, doch der erste Schluck kam postwendend wieder raus.

»Okay, das funktioniert schon mal nicht. Ich fahre schnell in die Apotheke, Lou. Hast du verstanden? Ich komme gleich wieder, okay?«[3]

Wieder liefen Tränen. Erschöpft sank ich auf das Kopfkissen zurück. Ich nickte nur. Luke wischte mit einem Waschlappen über mein Gesicht, stand auf und legte zusätzlich eine Wolldecke über mich. Dann war er weg. Ich schloss die Augen und fiel wieder in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.

Ich wurde wach, als Luke auf der Bettkante saß und irgendetwas auspackte.

»Dreh dich mal auf die Seite«, flüsterte er.

»Was … hast du …?«, flüsterte ich leise. Mir war wieder wahnsinnig heiß und ich zog die Decke ein Stück von mir runter.

»Zäpfchen. Alles andere funktioniert nicht, right?«

»Ich … nein … bitte nicht«, sagte ich leise und wollte meine Hand heben.

»Lou, keine Zeit sich jetzt zu schämen! Verstehst du?« Er packte mich an der Hüfte, drehte mich auf die Seite und zog meine Unterhose runter.[4] Mich dagegen wehren, konnte ich nicht. Ich fühlte mich, als sei ein LKW über mich gerollt.

»Jetzt hör auf, die Backen zusammenzukneifen«, flüsterte er, ehe ich etwas Kaltes an meinem … spürte.

»Huch«, kam es automatisch über meine Lippen.[5]

Luke lachte leise. »So, jetzt kannst du zusammenkneifen«, sagte er und zog mir die Unterhose wieder hoch. Er drehte mich wieder auf den Rücken und legte die Decke über mich.

»Bist du jetzt wieder weg?«, fragte ich leise, in meinem Kopf drehte sich alles.

»Nein, ich bleibe. Wir wollen doch, dass du gesund wirst, oder?«

Luke verschwand wieder und kam kurzdarauf mit einem kalten Waschlappen in der Hand, zurück. Vorsichtig legte er ihn mir auf die Stirn und setzte sich neben mich. Einen Moment noch schaffte ich es, mir sein Gesicht anzuschauen, dann war ich wieder eingeschlafen.

Ausgeruht wurde ich wach und hatte überhaupt kein Gefühl für Zeit. Verschlafen schaute ich auf den Wecker. Halb fünf. Aber welchen Tag hatten wir? Ich sah mich um. Luke hatte meine andere Hälfte vom Bett frisch bezogen. Wo war er? Ich richtete mich langsam auf und ließ die Beine aus dem Bett hängen. Mein Kopf tat immer noch weh, mir war leicht schwindelig und in meinem linken Ohr klopfte es stark.

»Hey.« Luke stand in der Tür und schaute mich sanft an.

»Hey«, entgegnete ich.

»How do you feel?«

»Besser. Vielen Dank für … ja. Also vielen Dank nochmal«, sagte ich leise und stand langsam auf.

»Nicht dafür. Musst du zur Toilette?«, fragte er und kam auf mich zu.

 Ich schüttelte den Kopf und merkte gleich, dass allein diese Bewegung dazu führte, wie es in meinem Kopf noch mehr klopfte. »Ich habe Durst und wollte mich gerne mal waschen. Hast du mir … also …«

»Ja, habe ich. Du solltest vielleicht aber den Tampon wechseln. Du blutest wahnsinnig.«

Ich schaute beschämt zu Boden und klatschte in die Hände wie ich es oftmals aus Verlegenheit tat.[6]

»Gut, dann mach ich das mal.« Ich versuchte an Luke vorbei zu gehen, doch er machte keine Anstalten, mich durchzulassen. Er hob mein Kinn an. Seine blauen Augen sahen bis tief in meine Seele, so kam es mir in diesem Moment vor und am liebsten hätte ich mich einfach an ihn gekuschelt und alles vergessen, was geschehen war.

»Wir sollten uns nachher mal unterhalten, right?«

Ich zog meinen Kopf zurück. »Sag es doch einfach jetzt. Wir trennen uns. Ich weiß es ja. Warum warten bis nachher?« Ich spürte einen Kloß in meinem Hals wachsen, der nur darauf wartete, dass Luke ›Genau, wir trennen uns‹, sagte.

Luke schnappte entsetzt nach Luft. »Wieso, also … nein, ich will nicht, dass wir getrennt sind. Aber ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich dich mit einer Gerte gehauen habe! Im Gegenteil. Es ärgert mich maßlos, dass ich so früh aufgehört habe. Du hättest das Dreifache verdient!«

Der Kloß ging kopfschüttelnd weg.

»Ich bin wenigstens so fair und entschuldige mich dafür, dass ich dir ins Gesicht geschlagen habe«, sagte ich leise und musste wahnsinnig husten.

»Okay, könntest du vielleicht jetzt, und das, ohne die Augen zu verdrehen, den Mund weit auf machen?«

Ich tat es widerstandslos, weil mein Hals wirklich wehtat.

»Good Girl!« Ich versuchte sein Gesicht zu sehen, seine Augen, doch die wurden von einer übergroßen Zornesfalte verdeckt. »Alright«, sagte er, nachdem er mir in den Rachen geschaut hatte. »Ich würde die Schläge auf das Fünffache erhöhen!«

Ich machte schnell den Mund zu. »Warum?«, fragte ich und musste wieder husten.

»Du hast eine eitrige Mandelentzündung! Und du hast gestern geraucht! Wie konntest du nur?«

Ich ging langsam in die Küche. »Ich hab gar nicht oft gezogen. Die Zigarette hat schon gar nicht mehr geschmeckt.«

Ich goss mir ein Glas Leitungswasser ein und trank langsam. Das Wasser tat gut. Ich fühlte mich völlig ausgetrocknet, aber die Vorstellung, mich jetzt waschen zu müssen, ging gar nicht. Ich war von den paar Schritten und von dem Glas Wasser, was ich nahezu leer getrunken hatte, so erschöpft, dass ich eigentlich am liebsten wieder ins Bett wollte.

»Ich rauche nie wieder. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke«, murmelte ich.

»Well, I hope so!«

Ich huschte schnell zur Toilette und schloss vorsorglich die Türe ab. Als ich mir die Unterhose runterzog, sah ich, dass Luke mir offensichtlich eine Binde hineingeklebt hatte. Dieser Mann dachte aber auch an alles.[7]

Ich war froh, als ich wieder im Bett lag und noch glücklicher war ich über die Tatsache, dass Luke sich neben mich legte. Die Bestrafung mit der Reitgerte verdrängte ich so gut es ging.

Sanft legte er seine Hand auf meine Stirn. »Du hast immer noch Fieber. Du solltest mal wieder was nehmen.«

Luke hielt die Schachtel hoch. »Ich habe nur das hier. Deine Tabletten waren vor zwei Jahren abgelaufen. Ich denke, die haben keine große Wirkung mehr.«

Ich nahm Luke die Schachtel aus der Hand. »Danke, ich … also das kann ich jetzt selbst machen.«

»Ich weiß«, sagte er und grinste.

»Schau weg«, entfuhr es mir entrüstet.[8]

Luke schloss die Augen. Ich öffnete die Verpackung, nahm eines der … wie soll ich es nennen? Torpedos … heraus und beeilte mich.

»Kann ich wieder auf machen?«, fragte er und lächelte.

»Ja.«

»Du hast vergessen, ›Huch‹ zu sagen!«

Ich haute ihm locker gegen den Arm. »Hör auf, dich über mich lustig zu machen!«

»Ich mach mich nicht lustig. Im Gegenteil, ich finde es sehr beachtlich, mit über vierzig Fieber noch die Arschbacken zusammenkneifen zu können und ›Huch‹ zu sagen.«

»Na siehste, das ist eben mein Spezialgebiet. Danke, dass du gekommen bist. Das war sehr nett von dir«, flüsterte ich, legte mich auf die Seite und sah ihn an. Luke tat es mir gleich.

»Ich war richtig wütend auf dich gestern! Du hättest dir besser nicht den Boss herbei gewünscht«, flüsterte er.

»Ich weiß. Aber ich war auch wütend auf mich.«

»So?«

»Ja. Ich hab mich benommen wie ein Kind. Versteh mich nicht falsch, ich finde es nett von dir, dass du dich so um mich sorgst, aber … aber es ist alles noch so fremd für mich. Ich hab manchmal das Gefühl, als kenne ich dich gar nicht. Früher kannte ich nur den Boss und Luke …«

Luke lächelte traurig. »Geht mir genauso. Du hast dich sehr verändert, Lou.«

»Vielleicht sollten wir einfach versuchen, den anderen so zu nehmen, wie er ist. Also … ja. Einfach wieder bei null anfangen.« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Ich … ich hab mich eigentlich gar nicht verändert.«

Luke lachte. »Nun, ich auch nicht, right?« Er streichelte mir zart über die Wange und fuhr mit dem Daumen meine Augenbraue entlang. »Ich bin immer noch der gleiche, Lou. Ich habe nur aus meinen Fehlern gelernt.«

»Aus welchen Fehlern?«

»Unter anderem aus dem Fehler, immer so herrschsüchtig zu sein.«

»Herrschsüchtig?«, erstaunt sah ich ihn an.

»Hast du mir mal vorgeworfen. Du hast gesagt, ich sei herrschsüchtig. Sogar beim Sex.«

Ich vergrub mein Gesicht in meine Hände. »Ja, ich erinnere mich. Danach hatten wir das Thema Analverkehr!«

Luke lachte. »Ja stimmt. Und ich habe mir den Zeh an der Balkontür gebrochen. An dem Abend hatte ich mir fest vorgenommen, dir zu erzählen, dass ich mal Medizin studiert habe und als Internist in einem Krankenhaus angestellt war. Aber irgendwie kam es dann nicht mehr dazu.«

»Jetzt weiß ich es ja.«

»Ja. Jetzt weißt du es und denkst, ich sei ein anderer Mensch.«

»Nein. Aber na ja, ist schon etwas komisch, mir von meinem Freund in den Hintern fassen und mir anschließend erklären zulassen, was ich habe. Oder plötzlich einen Freund zu haben, der einem eine Magensonde legt. Mich … ach, ich weiß auch nicht.«

»Das hat dich erschreckt, right?«, fragte er und küsste mich auf die Stirn.

»Ja. Irgendwie schon.«

Einige Sekunden sahen wir uns tief in die Augen.

»Sag mir, Lou, was ist wirklich dein Spezialgebiet? Jeder Mensch hat etwas, was er besonders gut beherrscht! Was ist es?«

Ich lachte leise, bevor ein Hustenreiz mich wieder zwang, ernst zu werden. »Ich hoffe, dass du mein Spezialgebiet niemals herausfindest«, sagte ich leise.

»Warum?«

»Nun, es ist kein gutes Spezialgebiet.« Ich legte meine Hand auf seine Wange und strich langsam mit dem Finger über seine Augenbraue.

»Dann mach ich es mir zur Aufgabe, das herauszufinden«, sagte er leise und zwinkerte mir zu. [9]

Wieder sahen wir uns lange an. Ich würde nie genug bekommen, sein Gesicht zu sehen. Ich würde es nie leid werden, jeden kleinen Punkt in seinem Gesicht zu studieren, dachte ich in diesem Moment und nahm mir fest vor, ihn einfach so zu nehmen, wie er eben war. Manchmal Luke, manchmal Boss, manchmal DGL und manchmal Arzt. All das war er und ich schämte mich dafür, dass ich ihm einen Vorwurf gemacht hatte, so oft, obwohl er mir nur helfen wollte …

Ein leichtes Knurren meines Magens holte mich von den Gedanken weg.

»Luke?«

»Mmh?« Er lag mir zugewandt, hatte die Augen geschlossen und genoss es, dass ich ihm über die Braue streichelte.

»Ich hätte Hunger auf diese chinesische Suppe. Die, die so scharf ist. Mit dem Gemüse drin.«

Er öffnete die Augen, nahm meine Hand von seiner Wange und hielt sie fest. »Ich glaube, die ist bei einer Mandelentzündung nicht so gut. Die tut bestimmt weh, wenn du sie runterschluckst.«

Ich verdrehte die Augen, wenn auch lächelnd. »Kannst du nicht einfach mal sagen: Baby, ich besorge dir alles, was du willst?«

Luke blinzelte mich lächelnd an. »Baby, I`ll get you anything you like!«

»Good Boy«, entfuhr es mir.

Er stand langsam auf und reckte sich ausgiebig. »Alright. Ich werde dann mal zum Chinesen fahren und möchte gerne beim Essen mit dir über das sprechen, was gestern passiert ist. Bist du damit einverstanden?«

Ich zog meine Decke bis zur Nase hoch. »Können wir den Tag von gestern nicht einfach streichen?«

»Nein!«

»Okay«, nuschelte ich.

Luke zog sich die Schuhe an. »Sonst noch Wünsche? Vielleicht gebratene Nudeln?«

»Ja, gerne. Und … also könntest du …«

»Lou, komm auf den Punkt«, sagte er und zog sich die Jacke an.

»Kommst du an einer Apotheke vorbei?«

Luke lachte laut auf. »Tabletten, right?«

»Bitte«, entgegnete ich nüchtern und zog die Decke wieder ein Stück runter.

»Bis gleich«, flüsterte er, zwinkerte mir zu und verließ meine Wohnung.

Ich nutzte die Zeit, in der ich wirklich das Gefühl hatte, dass es mir besser ging und duschte ausgiebig. Ich versuchte nachzuvollziehen, was genau gestern geschehen war. Ich war unendlich genervt von Lukes ständigen Kontrollen über meinen Gesundheitszustand. Und ich hatte mich regelrecht über eine Auszeit am Stall gefreut und das deswegen, weil ich da einfach nur Lou war und nicht ein krankes Wesen, was permanent kontrolliert wurde. Auf der anderen Seite fragte ich mich, was geschehen wäre, wenn er heute nicht angerufen hätte … was wäre geschehen, wenn er mir nicht geholfen hätte? Ich hatte so hohes Fieber, dass ich mich hätte alleine gar nicht bewegen können. Ich spürte, wie leichter Ärger in mir hochstieg. Und wieder war ich wehrlos und kraftlos. Klein. Krank. Schwach.[10]

Langsam trocknete ich mich ab, nahm das Handtuch und wischte damit über den Spiegel, der nahezu blind durch den warmen Wasserdampf geworden war. Lange Zeit sah ich mich selbst im Spiegel an, bis mein Gesicht immer undeutlicher wurde, weil der Spiegel erneut begann, blind zu werden. Ich musste ihm einfach die Frage stellen, ob es irgendetwas an mir gab, was für ihn annähernd groß war. Reif war. Erwachsen war… und ihm sagen, dass ich als Partner, als Frau behandelt werden wollte. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich hörte die Wohnungstür, just in dem Moment, indem ich meinen Jogginganzug angezogen hatte.

»Lou?«

»Ich komme. Moment noch«, rief ich zurück, warf einen letzten Blick in den Spiegel, der dank offenem Fenster wieder Durchsicht erlaubte und schloss die Badezimmertür auf.

Luke hatte alle Kartons vom Chinesen auf den Tisch in der Küche gestellt.

»Deine Wohnung gefällt mir übrigens so viel besser. Das haben Lina und Alex wirklich toll hinbekommen«, sagte er lächelnd und zog sich die Jacke aus.

»Ja, gefällt mir auch besser«, entgegnete ich, holte zwei Gläser und Mineralwasser und stellte die Sachen ebenfalls auf den Küchentisch. So … jetzt würde das Gespräch kommen. Weshalb auch immer spürte ich innerlich den leichten Anflug von Angst. Seltsamerweise hatte ich keine Angst, dass Luke womöglich sagen könnte, er wolle die Beziehung ein für alle Mal beenden. Das hätte er eher gemacht. Vielmehr hatte ich Angst vor neuen Regeln, die er bestimmte. Regeln, die mich noch kleiner machten. Regeln, die mich noch schwächer erscheinen ließen. Angst davor, dass er, wie er es nannte, die Zügel noch weiter anziehen würde.

Wir setzten uns beide an den Tisch. Luke fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die unordentlich zurück in seine Stirn fielen, verschränkte sie hinter dem Kopf und sah mich schmunzelnd an.

»Was ist?«, fragte ich leise.

»Ich sehe dir an, dass es dir unangenehm ist, mit mir jetzt hier am Tisch zu sitzen.«

Ich sah ihn an und schüttelte unweigerlich den Kopf. »Mir ist es nicht unangenehm mit dir hier zu sitzen, aber mir ist es unangenehm, jetzt ein Gespräch über gestern Abend führen zu müssen.«

Luke schob mir den Becher mit Suppe zu. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Vorsichtig öffnete ich den Deckel und rührte mit dem Löffel.

»Lou, ich finde es ganz schlecht zu rauchen. Da mach ich kein Geheimnis draus. Rauchen finde ich richtig scheiße. Aber wenn man schlechte Blutwerte hat, und sich hinsichtlich einer Sache untersuchen lassen wird und dann trotzdem noch raucht … da … da fehlen mir die Worte. Kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Ich weiß, dass du erwachsen bist und alleine entscheiden kannst, aber, dass du gestern geraucht hast, war definitiv nicht erwachsen und das hat mich sehr geärgert. Und deine Sprüche, dir ist der Boss lieber, ich finde, die könntest du dir sparen, right?«

Ich hatte versucht, dem Drang zu husten, nachdem ich den ersten Schluck Suppe zu mir genommen hatte, zu unterdrücken. Die Schärfe tat wirklich weh im Hals.[11] »Du hast mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt, was die hohen Werte ausgelöst haben könnten. Ich weiß es jetzt. Warum hast du es nicht auf den Punkt gebracht? Du hättest mir sagen können, dass du Angst hast, dass sich in meinem Körper Krebszellen befinden. Aber das hast du nicht getan.« Ich merkte, wie Luke scharf Luft einzog und auch blitzte kurz die Zornesfalte auf.

»Hör auf, sowas zu sagen«, flüsterte er wütend und aß.

»Warum nicht? Warum sollten wir nicht auch darüber mal sprechen? Warum kannst du das nicht? Ist es wegen Keeva? Ist es deswegen, weil du sie an den Krebs verloren hast?«

»Es reicht«, sagte er streng und sah mich an.

Ich löffelte weiter meine Suppe, mein Hals hatte sich inzwischen an die Schärfe gewöhnt. Kurze Zeit später legte ich den Löffel zur Seite und sah Luke ruhig an. Das war der Moment, in dem ich mir vornahm, erwachsen zu versuchen, ein Gespräch über Dinge zu führen, von denen ich wusste, dass sie Luke unangenehm waren.

»Luke, du kannst nicht immer bestimmen, über was wir reden. Vielleicht möchte ich über Krebs reden oder über Keeva. Vielleicht möchte ich auch mal über deine Frau reden oder über Piet. Du lenkst die Themen immer und wenn ich nicht aufhöre über Sachen zu sprechen, über die du nicht reden willst, bringst du den Spruch: Es reicht, und ich soll meine Klappe halten. Ich möchte über Keeva reden. Und ich möchte auch mal über deine Frau reden. Was ist so schlimm daran? Das sind Menschen, die in deinem Leben eine große Bedeutung haben. Mir ist wichtig, über Dinge zu sprechen, die dir viel bedeuten. Verstehst du?« Ich hatte ohne Unterlass gesprochen. Ich hatte schnell gesprochen, sodass es für ihn unmöglich gewesen wäre, dazwischen zu reden. Es sei denn, er hätte mit der Hand auf den Tisch gehauen, um mich zu unterbrechen. Aber das hatte er dieses Mal nicht gemacht. Allerdings sah ich in seinen Augen etwas Kritisches, und vielleicht auch einen kleinen Anflug von Angst.[12]

Ich wartete, in der Hoffnung, dass er irgendwas dazu äußerte und ich schaute auch nicht nach unten, wie ich es oft tat, weil ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Aber die plötzliche Stille die herrschte, belastete mich sehr.

»Luke, ich weiß nichts von dir. Du erzählst nie etwas. Du bist für mich wie ein geschlossenes Buch und ab und zu darf ich blättern. Aber immer nur kurz. Du hast mich, und sag nicht, dass es nicht so war, oft wie ein Kind behandelt und nicht wie eine Frau. Du hast mich gezwungen, so oft und ich habe mitgemacht, weil ich Angst hatte, dass du mich erneut schlägst. Du hast Grenzen überschritten. Grenzen, wo ich am liebsten vor Schamgefühl im Erdboden verschwunden wäre. Ich habe dir das alles verziehen, weil ich dich liebe. Ich habe immer festgehalten an dieser Liebe und glaube mir, ich wäre so oft gerne einfach davon gelaufen. Und ich finde, deswegen habe auch ich es mal verdient, dass du mir von dir erzählst, dass du auch über Dinge sprichst, die dir unangenehm sind.«[13] Ich fühlte mich in diesem Moment unendlich frei. Frei und stark. Jetzt war Luke derjenige, der den Blick senkte und kurzzeitig kam mir in den Sinn, dass ich zu weit gegangen war. Ich hatte bei ihm eine Grenze überschritten. Eine Grenze, die bisher noch keiner überschritten hatte.

Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab und schob seinen Chinakarton von sich weg. »Eigentlich«, begann er leise, »wollte ich über was anderes sprechen.«

Ich beugte mich etwas nach vorne. »Ich weiß das. Ich weiß, dass du gerne über was anderes gesprochen hättest. Aber wir können beide entscheiden über was wir reden wollen und nicht nur einer. Ich finde unsere Gespräche sind immer einseitig. Du bestimmst, ich ziehe mit. Du fragst, ich antworte. Weißt du Luke, ich würde auch gerne mal fragen. Ich würde auch gerne mal bestimmen, worüber wir reden.« Luke fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die Haare, lehnte sich lässig zurück und verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf.

»Alright, so, then ask every question you like!«

 

[1] Ich dachte wirklich im ersten Moment, Lou habe zu viel Alkohol getrunken.

[2] Da wusste ich, dass sie hohes Fieber haben musste. Wirklich hoch. Mit Fantasien fängt man erst ab ca. 40,5 an.

[3] Das Fieber war so hoch, dass sämtliche Funktionen in Lou absolut außer Gefecht gesetzt waren. Eigentlich gibt es gute Medikamente, die man in die Vene spritzen kann und relativ schnell senkt sich das Fieber. Allerdings wollte ich sie nicht damit erschrecken und wie ich Lou kenne, wäre sie erschrocken gewesen. Also entschied ich mich anstatt für Angst, für Peinlichkeit …

[4] Die Gerte hatte ganz schöne Striemen hinterlassen und kurzzeitig fühlte ich mich wirklich schlecht… aber nur kurz.

[5] Lou eben.

[6] Wenn sie das macht, ist es ihr wahnsinnig unangenehm. 

[7] Habe ich von Frauen gelernt :-)

[8] Anstellerei … aber ich mach mit.

[9] Ich hatte durchaus gespürt, dass sie immer noch irgendein Geheimnis hatte, von dem sie mir nicht erzählen wollte.

[10] Ich sehe sie so: Sie ist stark, sie ist klug, sie ist groß… artig!!!

[11] Hatte ich ja gesagt, aber Lou konnte ja mal wieder nicht hören.

[12] Ich hatte keine Angst! – Also glaube ich …

 

[13] Da habe ich mich schlecht gefühlt. Warum? Nun, sie hatte Recht.

 

 

 

***